BILDER SIND DAS LETZTE.
In unseren Städten steht dem gesellschaftlich geregelten Umgang mit Straßenmüll ein individuelles und nur all zu menschliches Verhalten gegenüber, das zu einer aufschlussreichen und spannend zu beobachtenden Bildproduktion führt. Ernst genommen bietet sich mit diesen allseits bekannten Straßenbildern die Chance einer künstlerischen Rekonstruktion, die eine neue Theorie des Bildes erlaubt. Alle Beiträge dieses Buches verdeutlichen, dass offenbar immer dann Bilder (auch künstlerische Bilder) entstehen, wenn eine symbolische Reintegration von Ausgeschiedenem notwendig scheint. Die Texte über Jasper Johns (aus dem Kunstbereich) und Jan Philipp Reemtsma (aus dem Medienbetrieb) zeigen, dass Bildwerdung eine bedrohliche Dramatik für uns bereithält, die keineswegs erst oder nur in Auseinandersetzung mit Dingen wie Atommüll (Castor) erfahrbar ist. Als Ausstellungen im öffentlichen Raum betrachtet, handeln diese urbanen Bildinszenierungen von der Macht der Bilder, von der Verdrängung und Akzeptanz des Todes und der Hoffnung auf ein Paradies. - Bilder sind das Letzte.

Schindler, Richard: Bilder sind das Letzte. Jena: IKS Garamond, 2001
zahlreiche farbige Abb. ISBN 3-934601-32-4

Aus dem Inhalt

anonymous

Es gibt kein Gesetz, das irgend jemanden verpflichtete eine so nichtige und belanglose Sache wie einen auf der Strasse liegenden Schnuller, eine einzelne Socke, einen kaputten Regenschirm und dergleichen, von der Strasse aufzuheben, zu begutachten und nach entsprechender Entscheidung und Wahl eines geeigneten Sockels auszustellen. Es gibt auch keine gesellschaftliche oder gruppenspezifische Norm, die dazu anhielte. Es gibt keine moralische Verpflichtung, an einem verlorengegangenen Kugelschreiber nicht vorbei zu gehen. Niemand würde Kritik üben oder auch nur einen anderen scheel ansehen, ginge dieser achtlos an einem billigen Schlüsselanhänger vorbei. Kein Gesetz, keine Norm, keine Moral. Nichts dergleichen.

Die Aussteller einer kleinen Fundsache können für sich selbst mit nichts rechnen – nicht einmal mit der Anerkennung ihres Tuns als besonders wertvoll oder mit der stillen Dankbarkeit des Wiederfinders. Die Dinge sind tatsächlich wertlos: Wem liegt schon ernsthaft daran, seinen beschädigten Regenschirm oder verlorenen Schnuller wieder zu finden? Und was macht man, wenn man wiederfindet, was man aus irgendeinem geheimen Grund verlieren musste? Die Arrangements machen unter rationalen Gesichtspunkten so wenig Sinn, dass anzunehmen ist es geht um die Ausstellung als solche.

Sie sind von unendlicher Stille, Einsamkeit und Wehmut, von anrührender Hilflosigkeit und leiser Hoffnung. Stillleben, die kein besonderes Licht bedürfen und keinen besonderen Raum, die keine Unterschrift tragen, keinen Titel, kein Datum, nichts. Selbst fast ein Nichts sind sie doch von atemberaubendem Reichtum, freigiebig und ohne Vorbehalt. Verletzlich und zart, unaufdringlich und zurückhaltend und doch über alle Massen genau und stark. Bilder von abgeklärter Schönheit, die ohne Worte, ohne Hinweis auskommen und direkt ins Herz gehen.

Verlieren ist ein Ortswechsel von da, wo etwas hingehört, wo es ‚daheim’ ist, nach da, wo es fremd ist. Weil es als Fremdkörper erkannt wurde, wurde es aufgehoben und ausgestellt: Es wurde nicht nach Hause gebracht (keiner weiß wo sein Zuhause ist), aber es ist in eine Lage gebracht, wo es bewahrt, vor völliger Zerstörung vorerst gerettet ist, von wo aus es leichter ‚nach Hause finden’ kann. Eine Zwischenlage, ein neutraler Ort zwischen Daheim und der Fremde, zwischen öffentlich und privat – am Zaun.

Im christlich-abendländischen Selbstverständnis ist der Inbegriff des Aufgehoben-Seins das Paradies. Die Wendung ‚Abfall vom rechten Glauben’, ‚Abfall von Gott’ und der Begriff ‚Sündenfall’ meinen ausdrücklich den Verlust des paradiesischen Zustand des Aufgehoben-Seins. Monotheistische Religion versteht das als selbstverschuldetes Ausgestoßen-Werden, als Hinauswurf. Der sündige Mensch ist selbst ein Ausgeschiedenes, ein Exkrement (und ist deshalb angewiesen auf das Sakrament, die göttliche Gnade).

Die Strassenausstellungen handeln von Heimatlosigkeit, dem Verlust der Unschuld und dem ewigen Leben. Das tatsächliche Aufgehoben-Sein der kleinen Dinge aber beinhaltet nicht nur eine Hoffnung, es ist ein Versprechen. Warum sollte nicht alles und jedes einmal aufgehoben sein? Zeigen die Ausstellungen nicht, dass es möglich ist? Realisieren diese Ausstellungen nicht auch was sie antizipatorisch meinen – das Aufgehoben-Sein? Wie anders vermöchten sie zu berühren? Das Ausgestellte ist ja tatsächlich (und nicht nur symbolisch) aufgehoben. Und der Verlierer, der sich im Falle des Findens erkennt oder wiedererkennt, hört tatsächlich auf Verlierer zu sein.

Ist die Freiheit und Autonomie, die Anonymität, die Randständigkeit und die flüchtige Nebensächlichkeit, Bedingung dafür, dass sich wie von selbst etwas fügt – jenseits von Kunst, jenseits auch von Theorie und Politik oder Wirtschaft, gewissermaßen exterritorial von allem und doch ganz immanent?

Diese Ausstellungen gehen uns so sehr etwas an, dass es im Allgemeinen leichter ist, daran vorbei zu gehen. Aber eben das gestatten sie auch – sie üben, mit anderen Worten, keinerlei Zwang auf uns aus. Ihre Größe und Wahrhaftigkeit einerseits und ihre alltägliche Belanglosigkeit und Folgenlosigkeit andererseits verdanken sie ein und demselben Umstand: der Geringfügigkeit der Sache. Das Versprechen der ersehnten Aufhebung, kann sich nur am Geringfügigsten zeigen – sich um einen Millionenschatz zu kümmern, hätte unmittelbar einsichtig andere Motive.
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